Die Heilkraft der Natur

von Dr. Volker Friebel

Viele Früchte, Gräser, Kräuter der Natur enthalten Substanzen, die heilsam sind. Wir wollen uns hier aber nicht ihnen, sondern unserem Erleben der Natur zuwenden, dem Aufenthalt in ihr, ihrem Einfluss auf uns, wenn wir sie mit unseren Sinnen wahrnehmen.

Ausgangspunkt für den Einfluss von Naturerleben auf die Gesundheit ist eine Veröffentlichung des Architekturprofessors Roger Ulrich. Seine sorgsam aufgebaute und durchgeführte Studie verglich Patienten nach einer Gallenblasen-Operation im Krankenhaus. Die Hälfte der Patienten hatte einen Blick auf eine wenig attraktive Backsteinwand, die andere Hälfte sah auf eine Baumgruppe. Die Patienten mit der schönen Aussicht benötigten statistisch signifikant weniger Schmerzmittel und konnten früher entlassen werden. Andere Studien bestätigten und ergänzten diese Ergebnisse.

So wurde ermittelt (nach Flade 2018), dass Mittagspausen in grünen Umgebungen erholsamer sind, dass ein Blick aus dem Fenster auf Grün oder ein Spaziergang durch Grün erholsamer ist als jeweils nicht-grüne Umgebungen. Auch die Leistungsfähigkeit etwa der Konzentration wird durch grüne Umgebungen besser wieder hergestellt als durch andere Umgebungen. Bilder von Natur sind danach ähnlich günstig wie der Anblick von „echter“ Natur oder die Bewegung in „echter“ Natur.

Menschen wissen das eigentlich selbst. So zeigte eine Studie, dass es Menschen, die sich lediglich vorstellen, erschöpft zu sein, mehr zu einem Spaziergang in der Natur als in städtischer Umgebung zieht, mit der Vorstellung, dass sie bereits gut erholt sind, wollten sie dagegen weniger in die Natur.

Natur, der Blick auf sie, der Kontakt mit ihr, heilt.

Weshalb ist das so? Was an dem, das Natur ist, heilt? Wir wissen es nicht wirklich. Vermutlich kommt mehreres zusammen. Was kann das sein?

◊ Betrachten statt Handeln: Natur verlangt nichts von uns. Wir kommen aus dem Reagieren und Agieren, das in der menschlichen Welt vorherrscht, in ein ruhiges Betrachten. Das entspannt, die Ausschüttung von Stress-Hormonen reduziert sich.

◊ Langsamkeit: Bewegungen in der Natur sind weit überwiegend langsam und für uns ungefährlich. Das beruhigt unser Kampf-/Flucht-System. In früheren Jahrhunderten war das nicht unbedingt so, Natur konnte damals auch rau und gefährlich sein – heute und in unseren Landen nicht mehr. Das ist entspannend. Gefährdung ist eher im Getriebe der Stadt.

◊ Breite der Aufmerksamkeit: In der Natur gibt es in der Regel eine Vielzahl von Sinneswahrnehmungen, die in der Wertigkeit eher nebeneinander stehen, als dass eines sehr dominant hervorstechen würde. Da ist gleichzeitig ein leichter Wind, da sind wechselnde Düfte, vielleicht Blätterrauschen, Flugzeuge in der Himmelsferne, Vogelstimmen … In städtischer Umgebung gibt es auch viele Sinneswahrnehmungen gleichzeitig, in der Regel sticht eines für uns an Wichtigkeit aber klar hervor. Naturumgebung fördert so eher eine breite Achtsamkeit, Menschenumgebung eine enge Aufmerksamkeit. Achtsamkeit gilt als Gesundmacher und bringt Kraft. Aufmerksamkeit ist an und für sich nicht „ungesund“. Muss sie aber fortwährend aufrecht erhalten werden, erschöpft sie und kostet Kraft.

◊ Faszination der Wirklichkeit: Die Konkretheit von Sonne, Gras, Wind, Vogelstimmen, fließendem Wasser kann uns aus den oft abstrakten oder jedenfalls weniger klar fassbaren Zuständen und Problemen des Alltags holen und erden, an einer anderen Wirklichkeit, die auch da ist.

◊ Abstand: In der Natur sind wir – in der Regel – in einem größeren Abstand zu den Problemen, die wir zu Hause haben, als wenn wir eben zu Hause sind. Einerseits können wir uns so von ihnen erholen, andererseits kann gerade in einem veränderten Abstand ein Problem sich verändern, kann es anders eingeschätzt werden, können überraschende Lösungen auftauchen, aus dem Gesang der Vögel, dem Rauschen des Wassers, dem Anblick der Bäume, der Weite des Himmels und dem, was all das mit uns macht.

◊ Luft und Sonne: In der Regel ist die Luft in der Natur besser als in Menschenumgebung. Und das Licht heller. Das wirkt stimmungsaufhellend und dürfte auch die Gesundheit fördern.

◊ Geborgenheit: In der Wissenschaft wird darüber spekuliert, inwieweit Natur in unseren Genen verankert ist. Für viele Menschen ist Natur jedenfalls wie ein Nachhausekommen, auch wenn sie in städtischer Umgebung aufgewachsen sind. Genetische Grundlage oder nicht: Wir verbinden mit Natur tendenziell Geborgenheit.

Eine Verbindung von Gesundheit und Natur wird von den Menschen (noch) wenig assoziiert. Als wichtig bei Krankheit sehen Menschen in Umfragen eher sterile keimfreie Räume, sie denken weniger an Grün (Gras, Blätter) oder Blau (Gewässer), die beiden vorherrschenden Farben der Natur-Umgebungen. Das zeigt ein gutes Verhältnis zu unserer allerdings gut entwickelten technischen Medizin. Es zeigt aber auch, dass ein für die Gesundheit wichtiger Bereich unterbelichtet wird: Die eigenen Kräfte der Gesundung.

Tatsächlich kann die Medizin in fast allen Bereichen nur eine Unterstützung für das bieten, was der Körper von selbst leistet. Wir schienen etwa einen Knochenbruch – doch die Selbstheilungskräfte des Körpers erst lassen die Knochen wieder zusammenwachsen. Die Schienung ist eine notwendige Bedingung. Welche Kräfte unterstützen unsere Selbstheilungskräfte aber bei der eigentlichen Gesundung, dem Zusammenwachsen der Knochen? Wir nehmen Medikamente gegen Bluthochdruck, Schmerzen, Über- oder Unterfunktionen von Organen. Die Medikamente lassen uns nicht durch Zauberwerk gesunden, sie setzen nicht bei Null an, sondern greifen in die schon vorhandenen Funktionen des Körpers ein, stellen eine verloren gegangene Balance wieder her.

Körperfunktionen lassen sich auch anders beeinflussen als durch Medikamente.

Wenn ich mich aufs Sofa lege und die Augen schließe, beeinflusse ich damit bereits meinen Organismus. Atmung und Herzschlag verlangsamen sich, die Muskulatur entspannt sich, Ruhe- und Erholungsfunktionen werden aktiviert.

Wenn ich auf dem Sofa liegend an einen Streit denke, beeinflusse ich auch damit meinen Organismus: Puls und Atmung beschleunigen sich etwas, Hormone werden ausgeschüttet und stellen einen Stresszustand her, die Muskulatur spannt sich etwas an.

Fast alles, was wir tun, erschöpft sich nicht in unseren Handlungen, sondern hat Einfluss auch auf unseren Organismus.

Wirkmechanismus

Unsere Wahrnehmungen gelangen von den Sinnesorganen in den Thalamus, das ist eine wichtige Struktur im menschlichen Zwischenhirn. Von dort geht eine Verbindung zum Großhirn, wo sie genau analysiert werden. Eine zweite, schnellere Verbindung geht in die Amygdala, gleichfalls eine Struktur im Zwischenhirn, die für emotionale Verarbeitung durchführt. So reagieren wir auf Wahrnehmungen, bereits bevor sie vollständig analysiert sind, mit einer emotionalen Reaktion.

Einfluss auf unseren Körper nimmt das Nerven- und Hormonsystem. Eben zu seiner Steuerung ist es da. Das Nervensystem kümmert sich um die Wahrnehmung, ihre Verarbeitung und unsere Reaktionen auf sie. Sowohl unser Denken als auch unser Verhalten, unsere motorischen Reaktionen, gehören dazu. Und unsere Gefühle, die im wesentlichen durch Ausschüttung von Hormonen vom Gehirn in die Blutbahn gesteuert werden.

Eine der ersten Verarbeitungen unserer Wahrnehmung im Gehirn bezieht sich auf die Zuordnung: Ist das, was ich wahrnehme, gefährlich oder nicht? Je nach der Antwort spricht besonders stark entweder der Sympathikus an, der Teil unseres Nervensystems, der für Erregung zuständig ist, oder der Parasympathikus, der für Ruhe und Erholung zuständig ist.

Durch Bäume, Gras, Seen, Wasserfläche wird der Parasympathikus stimuliert, wird der Körper sozusagen auf Ruhe, Erholung, Regeneration gestimmt, durch Straßenverkehr oder auch eine Schlange im Gras wird unser Kampf-Flucht-System angesprochen, der Sympathikus stimuliert, gerichtete Konzentration und Blutdruck steigen, die Herzfrequenz nimmt zu.

Der Zustand der Erregung und der von Ruhe und Erholung sind für uns gleichermaßen wichtig. Wir müssen handeln, wir müssen uns konzentrieren können. Das ist Erregung und kostet allerdings Kraft – und die Reserven des Körpers sind nicht unerschöpflich. Dauert ein solcher Zustand von Handeln und Konzentration zu lange an, führt das zu Stress, unsere Leistungen lassen stark nach. Dann sind Ruhe, Erholung, Wiederaufbau der Reserven nötig.

Aus einem Zusammenspiel von Erregung und Ruhe besteht unser Leben. Überdauernder Stress bedeutet eine Störung des Gleichgewichts, auch Krankheit ist eine solche. Dann sind zum Ausgleich die ruhigen und aufbauenden Kräfte unseres Körpers besonders gefragt, die Arbeit des Parasympathikus.

Was tun?

Was uns erholt, ist gut. Yoga und andere Verfahren zur Entspannung und Stressbewältigung etwa. Und alles, was mit Natur zu tun hat. Mit dem beschäftigen wir uns besonders.

Natur ist aber nicht immer positiv und erholsam. Erdbeben, Vulkanausbrüche, Überschwemmungen stressen, können tödlich sein. Auch oben das Beispiel der Schlange im Gras zeigt: Selbst in schöner Natur können Gefahr und Stress lauern.

Früher galten Hochgebirge und Wälder nicht als erholsam, sondern als abweisend und menschenfeindlich, waren negativ besetzt. Das hat sich geändert. Studien zeigen aber, dass es durchaus Unterschiede in der Sicht von Natur gibt.

Im allgemeinen wird nicht der Urwald als freundlich und erholsam assoziiert, sondern der lichte, aufgeräumte Wald. Es kommt aber darauf an. Wer sich als Abenteuer auf einen Urwald einlässt, kann gerade den als besonders erholsam erleben.

Subjektive Momente spielen also auch beim Naturerleben eine Rolle. Entsprechend sollten wir uns zur Erholung der Natur zuwenden, die wir spontan als erholsam empfinden.

Möglichkeiten für mehr Natur:

◊ Aufenthalt in der Natur.
◊ Natur um uns aufbauen.
◊ Umgang mit Naturgegenständen.
◊ Vorstellungen von Natur.

Natur ist so eine ausgezeichnete Ergänzung zu den verschiedenen Entspannungsverfahren, für die wir auf dieser Netzpräsenz Online-Kurse anbieten. Am besten ist natürlich beides zu fördern: Einmal mehr Umgang mit der Natur, bewussten Umgang mit der Natur. Und verschiedene Techniken der Entspannung und Achtsamkeit, die daraus abgeleitet sind, die verschiedenes von dem, was Natur erreicht, ebenfalls erreichen können.

Zitierte Literatur

Flade, Antje (2018): Zurück zur Natur? Erkenntnisse und Konzepte der Naturpsychologie. Springer Fachmedien, Wiesbaden.

Ulrich, Roger S. (1984): View through a window may influence recovery from surgery. Science, 224, 420-421.