Ansatzpunkte der Entspannung

Entspannung ist eine Methode der Stressbewältigung. Wo setzt Entspan­nung beim Menschen an? Das ist je nach Verfahren verschieden. Ziel ist immer die psychische Entspannung. Als Weg dorthin werden meistens körperliche Mittel gewählt. In unserem Nervensystem kommt alles zusammen.

Das Nervensystem

Unser Nervensystem lässt sich in das Zentralnervensystem und das peri­phere Nervensystem gliedern. Das Zentralnervensystem besteht aus Gehirn und Rückenmark, das periphere Nervensystem umfasst alle Nervenfasern und -zellen im restlichen Körper.

Im Gehirn finden unsere Wahrnehmungs- und Denkleistungen statt. Auch unsere Bewegungen, unsere Handlungen und die Regulierung unseres ganzen Körpers haben hier ihren Ausgangspunkt.

Das Zentralnervensystem wirkt nach außen im wesentlichen durch das periphere Nervensystem und durch das eher langsam reagierende Hormonsystem. Dieses periphere Nervensystem hat zwei unterschiedliche Teile: Im Gehirn liegen ihre Zentren, sie sind dort eng miteinander verwo­ben. Ihre Nervenfasern im Körper verlaufen getrennt.

Unsere Kraftmuskeln, das sind alle Muskeln, die wir willentlich bewegen können, stehen unter Kontrolle des Somatischen oder Willkürlichen Nerven­systems. Ohne sie könnten wir weder gehen noch stehen, weder den Kopf bewegen, noch einen Finger oder ein sonstiges Körperteil. Das Somatische Nervensystem hat also mit aller Aktivität des Körpers zu tun, die sich nach außen richtet, mit willkürlichen Bewegungen und Handlungen.

Daneben existiert das sogenannte Vegetative oder Autonome Nerven­system. „Autonom“, selbstständig, wird es genannt, weil es nicht oder zumindest weit weniger willentlich beeinflussbar ist, als das Somatische Nervensystem. Es reguliert die Organfunktionen des Körpers, passt Herz­schlag, Atmung, Verdauung den jeweiligen Bedürfnissen an und kontrol­liert unser inneres Milieu. Über eine Beeinflussung der Blutgefäße (ihr Durchmesser wird je nach Bedarf verändert) reguliert es auch Blutfluss und Kreislauf.

Das Vegetative Nervensystem unterteilt sich in den Sympathikus, den Parasympathikus und das für unser Thema wenig wichtige Darmnerven­system. Sowohl Sympathikus als auch Parasympathikus sprechen innere Organe und Blutgefäße an. Bei vielen Organen sind sie gleichzeitig tätig. Dabei wirken sie oft antagonistisch, gegensätzlich. Nervenimpulse des Sympathikus wirken in der Regel ergotrop, das heißt die Handlungsbereit­schaft des Organs wird erhöht, es wird aktiviert. Nervenimpulse des Parasympathikus wirken in der Regel trophotrop, das heißt das Organ ändert seine Tätigkeit in Richtung Ruhe und Erholung.

Im Gehirn bewirkt der Einfluss des Sympathikus eine Bewusstseinsstei­gerung, der Einfluss des Parasympathikus Bewusstseinsdämpfung. Der Sympathikus erweitert unsere Pupillen, der Parasympathikus verengt sie. Atmung und Herzfrequenz werden durch den Sympathikus beschleunigt, durch den Parasympathikus verlangsamt. Der Blutdruck wird durch den Sympathikus erhöht und durch den Parasympathikus erniedrigt. Der Einfluss des Sympathikus setzt in der Leber Zucker, das heißt Energie, frei, der Einfluss des Parasympathikus bewirkt eine Speicherung von Zucker. Der Stoffwechsel wird durch den Einfluss des Sympathikus gestei­gert (Energie wird verbraucht), durch den Einfluss des Parasympathikus verlangsamt. Insgesamt findet sich also durch den Einfluss des Sympathi­kus meist Aktivität und Energieverbrauch, durch den Einfluss des Parasympathikus meist Erholung und Energieaufbau.

Der Sympathikus wirkt auch über die Hormone. Denn eine wichtige Hormondrüse, das Nebennierenmark, ist Teil des Vegetativen Nerven­systems. Das Nebennierenmark besteht aus umgewandelten Zellen des Sympathikus. Werden sie erregt, geben sie ein Hormongemisch aus 80% Adrenalin und 20% Noradrenalin in das Blut ab. Diese Hormone wirken auf dieselben Organe wie der Sympathikus ein, sie sorgen dabei vor allem für die Bereitstellung von Energie. Sie werden auch als Stresshormone bezeichnet.

Das Konzept der Trophotropie von Walter Rudolf Hess (1954) legt nahe, dass die Wirkung von Entspannung durch eine Stärkung der Aktivität des Parasympathikus zustande kommt. So wurde die Wirkweise des Autoge­nen Trainings erklärt. Möglicherweise findet in der Entspannung aber eher eine Verminderung der sympatho-adrenergen Erregungsbereitschaft statt, und zwar derart, dass eine Dominanz des Sympathikus abgebaut und ein Gleichgewicht zwischen Sympathikus und Parasympathikus hergestellt wird (Vaitl 2014).

Entspannungszugänge

Unser Nervensystem dient allem, was wir wahrnehmen, empfinden, denken, wollen, tun als Grundlage. Aus seinem Aufbau ergeben sich verschiedene Entspannungszugänge.

Das Vegetative Nervensystem wird etwa durch Übungsformeln des Auto­genen Trainings beeinflusst („Ich bin ganz warm …“). Angesprochen werden Körperzustände, die natürlicherweise mit Entspannung verbunden sind, so Schwere, Wärme, ruhiger Atem, ruhiger Herzschlag. Die wieder­holte Darbietung von Übungsformeln in entspannter Atmosphäre führt zu ihrer Assoziierung mit dem entspannten Zustand.

Eine solche Assoziierung dürfte schon in einem gewissen Maße durch unsere Alltagserfahrungen gegeben sein: Wärme, ein ruhiger Herzschlag, ein ruhiger Atem sind bereits durch Vorerfahrungen in unserer Vorstel­lungswelt mit Entspannung verknüpft.

Über diese Assoziierung soll dann nach einigem Üben schon durch das innere Vorsprechen der Übungsformeln der mit ihnen verknüpfte Entspan­nungszustand hergestellt werden.

Die Übungsformeln des Autogenen Trainings beabsichtigen eine Ent­spannung des Vegetativen Nervensystems. Die Entspannung soll von diesem aus auf das gesamte Nervensystem generalisieren. Und aus der Beruhigung des Körpers soll eine Beruhigung der Psyche folgen.

Das Somatische Nervensystem ist Ansatzpunkt etwa der Progressiven Muskelentspannung. Sie möchte eine Entspannung der Willkürmuskulatur erreichen, durch Anspannen von Muskelgruppen, mit folgendem Loslassen dieser Anspannung.

Dem Übenden wird durch Konzentration auf das Körpergefühl der Unter­schied zwischen Spannung und Entspannung bewusst. Über diese Wahr­nehmungsschulung gelingt es, den Grad der muskulären Anspannung besser unter bewusste Kontrolle zu bekommen, selbst bewusst zu ent­spannen. Wir haben dazu im Arbeitstext „Was ist Entspannung?“ einen Versuch gemacht.

Der Entspannung der Willkürmuskulatur soll eine Generalisierung auf das gesamte Nervensystem folgen, und der Entspannung des Körpers eine Beruhigung der Psyche.

Am Zentralnervensystem mit seinen Wahrnehmungs- und Assoziations­zentren setzen Vorstellungsbilder an (Fantasiereisen, Ruheorte, Imagina­tionen). Mit Entspannung assoziierte Vorstellungsbilder erzeugen eine Ent­spannung der Psyche, die dann auf den ganzen Körper generalisieren soll. Unsere Zitronen-Vorstellung im Arbeitstext „Was ist Entspannung?“ war ein Versuch mit diesem Zugang.

Für die Praxis bietet sich eine Unterscheidung an, ob eine Methode in erster Linie die Wahrnehmung anspricht, innere Vorstellungen hervorruft oder über Veränderungen körperlicher Zustände wirkt.

Wahrnehmung: Konzentration auf die Wahrnehmung sind der Kern von Achtsamkeit, der Atembeobachtung, des Yoga, der Massage, auch der Progressiven Muskelentspannung.

Innere Vorstellungen: Über innere Vorstellungsbilder führen Imagina­tionen (bei Kindern Traum- oder Fantasiereisen) und Ruheorte zur Ent­spannung. Vorstellungen werden auch im Autogenen Training verwendet, allerdings weniger Bilder, als vielmehr Begriffe, die mit Entspannung ver­knüpft sind.

Körperliche Veränderung: Aktive Veränderungen des körperlichen Zustands, meist im Sinne von Verlangsamung und Rhythmisierung. Dazu werden Meditative Tänze genutzt. Auch hier haben Yoga und Progressive Muskelentspannung starke Anteile.

Oft nutzen einzelne Methoden mehrere dieser Zugänge. Die Progressive Muskelentspannung verlangt eine aktive Anspannung der Muskulatur, des­halb steht sie bei „körperliche Veränderung“. Ziel der Anspannung ist es, eine Wahrnehmung des Unterschieds von Anspannung und Entspannung zu ermöglichen. So steht sie auch unter „Wahrnehmung“. Auch Yoga ist beiden Zugängen zuzuordnen.

Gleichgültig, welchen Zugang sie nehmen, alle Methoden möchten in Richtung psychische Entspannung führen. Und sie können dieses Ziel im Ergebnis auch durchaus vergleichbar erreichen. So handelt es sich nicht darum, das „beste“ Entspannungsverfahren herauszufinden, sondern das, was in der jeweiligen Situation mit ihren Bedingungen und Möglichkeiten am besten passt.

Auch sollte beim Lernen von Entspannung eine gewisse Vielfalt geboten werden. Die einzelnen Methoden sprechen unterschiedliche Menschen unterschiedlich gut an. Wenn jemand sich auf den einen Zugang nicht einlassen kann, dann vielleicht auf einen anderen.

Es ist grundsätzlich gut, ein Thema von vielen Seiten anzusprechen. So wie wir uns zu bewegen gelernt haben, nicht indem wir die eine und einzige richtige Methode immer wieder angewandt haben, sondern indem wir alles Mögliche taten, alles was ging, auch Krabbeln, Hüpfen, Springen, Stolpern. Und nun können wir nicht nur gehen, sondern auch tanzen!